Sagenhaftes Zinnwald
Hoch um eure dunklen Stirnen kreist die Wolke wie ein Traum,
sagenhaft in euern Klüften wächst der edle Silberbaum,
und das Grubenlämpchen zittert um verwunschenes Gestein...
O ihr Märchen meiner Heimat, stillt mein Herz und singt es ein!
Der Hexenabend
(Hübner, Die Sagen des Bezirkes Aussig)
Der 1. Mai wird im Erzgebirge (von Zinnwald bis Peterswald) als Hexenabend gefeiert. In den Abendstunden hört man von den Bergen gar seltsame Laute widerhallen. Knechte und Kuhhirten blasen auf Rinderhörnern, denen die Spitze abgesägt ist, oder auf sogenannten Dudelsäcken, die aus abgedrehter Ebereschenrinde verfertigt sind, den Hexenreigen. Hin und wieder fällt auch ein Schuß. Wird es dunkel, dann laufen Bauernburschen und Knechte, meist von Kindern begleitet, alle mit Strohseilen versehen, um das Gehöft und auf das angrenzende Feld, dabei fortwährend mit dem Strohseile die Erde peitschend, um so die Hexen zu vertreiben. Bauersfrauen müssen an diesem Abend auch noch für die Abwehr der Unholdinnen sorgen, damit das Vieh nicht verhext werde, daß Butter, Quark und Käse stets gut gelingen. Manche Bäuerin bestreicht die Schwelle der Stalltür mit Milch oder Tierurin oder mit bestimmten Kräutern. Darauf nimmt sie ein Töpflein, neu und irden muß es sein, gibt Milch hinein oder jene Kräutlein und stellt es dann unter die Stalltürschwelle oder unter die Krippen der Kühe. An diesem Tage (auch am Heiligen Abend) wird kein Seidel Milch, kein Napf Butter und kein Ei verkauft. Die Tiere, besonders die Kühe, bekommen verschiedene Zauberkräuter zu fressen und manches Tränklein zu saufen.
Das Äfftemannl und die Klagemutter
(Hübner, Die Sagen des Bezirks Aussig)
In der Gegend zwischen Zinnwald und Peterswald kennt man das Äfftemannl.
Es ist ein kleines schwarzes Mannl mit garstigem Kopf, ein Hausgeist, dem
Unglück folgt, der schlimme Anzeichen gibt, im Hause umgeht und die
Bewohner um die Nachtruhe bringt. Hat einer in später Nacht das Äfftemannl
in ein Haus schleichen sehen, so weiß es am anderen Tage gleich das
ganze Dorf. In dem Hause aber gibt es bald ein Unglück.
Dort gibt´s weiter die Klagemutter. Sie ist ein weißes Gespenst,
das dem Wanderer plötzlich auf der Straße erscheint, sich größer
und kleiner machen kann und schauerliche Töne hervorbringt. Alte Leute
erzählen, daß ihnen die Klagemutter begegnet sei.
Das Waldweibl im Seegrund bei Zinnwald
(Köhler, Sagenbuch des Erzgebirges)
Ein Mann von Zinnwald trieb Spitzenhandel, der ihn öfters nach Böhmen
führte. Einmal ritt er durch den Seegrund nach Eichwald; da begegnete
ihm ein Waldweibl. Es redete ihn an: "Bruder, willst du mit mir schnupfen?" Dabei
tat es sonderbarerweise seine Schürze auf, die voll Laub war. Als der
Spitzenhändler hineingriff, um sich spaßeshalber eine Handvoll
Laub zu nehmen, blickte er zugleich auf und sah, daß das Gesicht des
alten Weibls einem alten Käse glich. Er erschrak so sehr, daß er
die Hand zurückzog und fortritt. Das Weibl aber rief ihm nach: "Nun
muß ich noch hundert Jahre warten; hättest du das Laub genommen
und wärst nicht erschrocken, so wär ich erlöst!" Ein
Blatt war ihm jedoch unter den Ärmel gefahren, und das war, als er
es später fand, lauter Gold.
(Das Aussehen des Waldweibls erinnert an die Zwerge Tirols und der Schweiz,
die dort "Kasermanderln" (Käsemännchen) heißen
und den goldenen Käse verschenken. Die Sprachforschung hat nachgewiesen,
das Quark (Käse) und Twarg ( im Mittelhochdeutschen querx und twerc)
im deutschen Norden bis Livland sowohl Zwerg als Käse bedeutet. An
diese Bezeichnung klingen in unserer Heimat gebräuchlichen Worte Quargel
oder Quärgel für Quarkkäse und "Herumquärgeln" für
das Herumkriechen kleiner Kinder an. Die Kinder werden hier mit Zwergen
verglichen. Auch der bei uns für einen Wirbelwind oder eine leichte
Windhose gebräuchliche Name "Quärgelwind" erinnert an
die Querxe oder Zwerge.)
Das "Tote Kindl" bei Zinnwald
Der zwischen Vorder- und Hinterzinnwald gelegene Zinnwalder Berg (879,5 m über
dem Adriatischen Meere) führt auf den Landkarten, auf den Anschlagstafeln
des dort liegenden Wasserwerks der Stadt Teplitz und auch im Volksmunde
den Namen "Das Tote Kindl".
Meine bereits vor Jahrzehnten über die Herkunft des Namens angestellten
Nachforschungen wollten erst zu keinem einwandfreien Ergebnis führen.
Der Volksmund wußte nichts zu berichten. Die einzigen gedruckten Nachrichten
darüber sind in Törmers inhaltreichem Buche "Ins östliche
Erzgebirge - Der Mückenberg mit seinen sämtlichen Anstiegswegen" enthalten.
Es heißt dort: Der Sage nach soll in den Befreiungskriegen gegen die
Franzosen ein Soldat an dieser Stelle ein totes Kind gefunden haben. Eine
andere Leseart sagt, daß an diesem Punkte unter der Regierung Kaiser
Franz I. eine astronomische oder meteorologische Station erbaut werden sollte.
Bei der an Ort und Stelle vorgenommenen kommissionellen Begehung soll ein
zugezogener Förster über dieses Projekt in seiner derben ungeschminkten
Redeweise die Worte gesprochen haben: "Na, das ist auch ein totes Kind",
woher nun die Flurbenennung stammen soll. Ein Stein mit der folgenden undeutbaren
Inschrift bezeichnet die Stelle: RCG. INNP. TYQNC. PYI. OPAS + YTY 1808.
Der Sage nach wurde auf dem Gipfel des 879 Meter hohen Berges bei Vorder-Zinnwald
ein totes Mädchen gefunden: Die Tochter einer ledigen Dienstmagd aus
dem Schiffelhaus - einem der ältesten Häuser von Vorder-Zinnwald
- und eines Forstgehilfen aus dem Forsthaus Seegrund. Die Mutter wurde des
Mordes an ihrer Tochter für schuldig erklärt und auf dem Galgenberge
bei Graupen hingerichtet. Erst auf dem Sterbebett gestand der Forstgehilfe,
daß er seine Tochter vom Schiffelhaus weggelockt und auf dem Berge
ermordet habe, um der Mutter keine Zahlungen leisten zu müssen oder
diese gar zu heiraten.
Der Schacht zu den wunderlichen drei Köpfen in Zinnwald
(Nach Wächter)
In Graupen betrieben einst drei Brüder als Eigenlöhner eine ausgiebige
Zeche und gelangten zu Reichtum. Das plötzliche Verschwinden des Erzganges
erforderte aber hohe und leider ergebnislose Aufwendungen, so daß der
Reichtum dahinschwand. Da erschien allen drei Brüdern in einer Nacht
der Berggeist im Traume und forderte sie auf, die zwecklose Mühe aufzugeben
und gegen Mitternacht zu wandern, wo ihnen reiche Ausbeute beschieden sein
würde. Sie befolgten den Rat. Als sie einige Stunden gegangen waren,
fanden sie im dichten Walde zu Tage stehende Zwitter. Sie stritten hin und
her, ob dies wohl schon der rechte Platz zum Einschlagen sein möge
oder ob es ratsam sei, noch weiterzuwandern. Als sie sich nicht schlüssig
werden konnten, erschien ihnen plötzlich der Berggeist als Berggnom
wieder, sprach nur: "Ihr seid aber doch drei wunderliche Köpfe" und
war dann plötzlich verschwunden. Die drei Brüder wußten
nun, was sie zu tun hatten; sie schlugen ein und hatten reiche Ausbeute.
Den Einschlag nannten sie "Zu drei Wunderköpfen". Es war
der erste Schacht im Zinnwalder Bergrevier; er ist heute noch vorhanden
und wird kurzwege der "Köpfenschacht" genannt.
Diese drei Männer waren die Begründer von Zinnwald, da sich wegen
des großen Zinnreichtums bald weitere Bergleute aus Graupen einfanden.
Sie nannten ihre Siedlung "Der Zinnwald", weil der ganze Wald
reich an Zinn war. Nach einem alten Berichte sollen die Zwitter so viel
Zinn enthalten haben, daß, wenn man auf der Wiese einen Stein nach
einer Kuh warf, dieser wertvoller war als die Kuh.
(Der erste Zinnbergbau in unserer Heimat war ein erfolgreicher Seifenabbau,
nur so ist die ungeheure Ausbeute zu erklären, von der die Chroniken
berichten. Der "Köpfenschacht" ist der auf böhmischer
Seite gelegene südlichste Aufschluß des Zinnwalder Zwitterfeldes,
so daß es ganz den Anschein hat, als ob er von den aus Graupen kommenden
Bergleuten zuerst befahren worden wäre.)
Der Wolfsgrund bei Zinnwald
(Mitgeteilt von Schulleiter Glatz, Vorder-Zinnwald)
Der östlich der Höhe "Totes Kind" nicht allzu weit von
der Landesgrenze in Böhmen gelegene "Wolfsgrund" hat seinen
Namen von folgender Begebenheit: Ein Meißner Grundherr durchritt einst
den Wolfsgrund und wurde dabei von den Wölfen angefallen. Auf seine
Hilferufe eilten die bereits hier ansässigen Köhler herbei und
befreiten ihn aus seiner Notlage. Aus Dankbarkeit überwies er seinen
Rettern das umliegende Waldgebiet zur freien Abholzung für die Köhlerei.
(Törmer vertritt in seinem Buche "Ins östliche Erzgebirge" allerdings
eine andere Ansicht. Er meint, die dort liegenden "Wolfswiesen" dürften
ihren Namen wohl weniger dem Raubtiere verdanken als einer niedrigen, kurzen
Grasart, im Volksmunde "Wolf" genannt. Mit dem Ausdrucke "Wolfswiesen" bezeichnet
man schlechte Wiesen, und das dürfte nach seiner Meinung auch hier
der Fall sein.)
Das wandernde Haus in Zinnwald
(Gräße, Ziehnert usw.)
In dem sächsischen Anteile des Bergfleckens Zinnwald steht ungefähr
50 Schritte von der Grenze ein kleines hölzernes, von einem Bergmann
bewohntes Häuschen, an dessen hinterem Deckenbalken in der Stube folgender
Vers eingeschrieben ist:
Ich bin nun auf Sachsen Boden, Gott lob,
weil mich mein Wirth, Hans Hirsch, aus Böhmen rüberschob. (1721)
Hermit hat es folgende Bewandtnis: Als in den Jahren 1716 bis 1728 die
protestantischen Einwohner Böhmens ihres Glaubens wegen beunruhigt
wurden, wanderten viele in das benachtbarte Sachsen aus, unter anderen auch
ein armer Bergmann, Namens Hans Hirsch. Weil dieser aber sein nahe der Grenze
stehendes Häuschen nicht gern zurücklassen wollte, hat er dasselbe
mit Hilfe seiner Freunde und Nachbarn des Nachts auf Walzen gesetzt und
glücklich nach Sachsen herüberpraktiziert und zum Gedächtnis
obigen Vers in die Stubenecke eingeschnitten.
(Das vielfach beschriebene und bekannte "wandernde Haus" in Zinnwald
ist ein Opfer des Weltkrieges geworden. Beim Schlackengraben ist es samt
der Halde, worauf es stand, verschwunden. In den Mitteilungsheften des Landesvereins
Sächs. Heimatschutz vom Jahre 1918 habe ich ihm einen Nachruf gewidmet
und sein Bild veröffentlicht. Nach öfterer Besichtigung des Häuschens
und seiner Umgebung habe ich mir freilich schon vor Jahrzehnten eine ganz
andere Erklärung des Wanderns zurechtgelegt. Ich nehme an, daß der
schlaue Hans Hirsch in einer verschwiegenen Nacht der Gegenreformationszeit
einfach die Landesgrenze etwas nachgebessert und die Grenzsteine versetzt
hat. Die Landesgrenze ist gerade an dieser Stelle besonders scharf ausgezackt;
sie mag sich früher geradlinig hingezogen haben, so daß das Haus
auf böhmischem Gebiet stand. Flurkarten, die diesen Eingriff in das
Staatsgebiet aufgeklärt hätten, sind damals sicher noch nicht
vorhanden gewesen, auch wußte wahrscheinlich Hans Hirsch nichts davon,
daß er mit der Veränderung des Staatsgebietes ein Verbrechen
beging, auf das zu damaliger Zeit die Todesstrafe stand und das bis heute
noch, wenigstens in Deutschland, nach § 81,4 des Strafgesetzbuches
mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe bedroht ist. Die Sache ist verjährt,
Hans Hirsch ist tot, und das Häuschen ist abgebrochen; mag wenigstens
die Sage weiterleben, obwohl sie nun gegenstandslos geworden ist.)
Das Gräfinsbad bei Zinnwald
(Mitgeteilt von Willy Härtel, Liebenau)
An der Straße von Hinterzinnwald nach Vorderzinnwald steht unweit des
Wasserschachtes der Stadt Teplitz links an der Waldecke eine schlichte Tafel
mit der Inschrift "Gräfinsbad". Die Tafel ist im Jahre 1930
von Zinnwalder Heimatfreunden aufgestellt worden, um eine Stelle unserer
Heimat zu bezeichnen, um die sich eine alte Sage zieht. Ein kleines Werk
vorbildlicher Heimatliebe wurde mit dem Setzen der Tafel verrichtet; es
ist zu wünschen, daß es Nachahmung findet. Wir haben noch viele
Stellen in unserer Heimat, um die Sagen klingen, die dem Untergange geweiht
sind, wenn die Erinnerung nicht in ähnlicher Weise festgehalten wird.
Die Sage vom "Gräfinsbad" lautet: In alter Zeit bedeckte
ein heute zum Teil entwässertes Hochmoor den Gebirgskamm zwischen Vorder-
und Hinterzinnwald. An der bezeichneten Stelle befanden sich ein tiefer
Sumpf und ein Teich. Vom Teiche ist heute nichts mehr zu sehen; Reste des
Sumpfes sind noch vorhanden. Einstmals fuhr eine Gräfin mit ihrem schönen
Wagen in der Richtung nach Vorderzinnwald. Just an dem Sumpfe begegnete
ihr ein Priester, der mit dem heiligen Sakrament von einem Sterbenden kam.
Der Kutscher hielt als gläubiger Christ sofort den gräflichen
Wagen an, stieg ab und beugte das Knie vor dem Heiligtum, das der Piester
trug. Die Gräfin war unwillig darüber und schrie dem Kutscher
zu: "Fahre zu in Teufels Namen!" Kaum war das Fluchwort gesprochen,
versanken Pferde und Wagen samt der Gräfin im unergründlichen
Sumpfe, und nur der fromme Kutscher kam mit dem Leben davon.
Die Zinnwalder Geisterbeschwörung
(Mitgeteilt von Max Schotte, Altenberg)
Zur Zeit der Gegenreformation gab es in Böhmisch-Zinnwald eine Anzahl
Bergleute, die sich den päpstlichen Irrlehren widersetzten und sich
der Seelsorge des Geisinger Pfarrers Kauderbach anvertrauen. An bestimmten
Tagen hielten sie ihre Erbauungsstunden in den unterirdischen Erzgruben
von Sächsisch-Zinnwald ab. Dem genannten Geisinger Geistlichen ging
ein großer Ruf als Wissenschaftler voraus. So war allgemein bekannt,
daß er besonders gründlichen Bescheid über das religiöse
Sektenwesen und den Okkultismus (unerklärliche Erscheinungen) wußte.
Er war auch imstande, das berüchtigte 6. und 7. Buch Moses zu enthüllen
und konnte demzufolge Geister rufen oder bannen. Der Einwohnerschaft von
Zinnwald war auch bekannt, daß Kauderbach in dem kleinen Wohnhause
Nr. 28 an der "Hemme" oft Einkehr hielt und dort seine wissenschaftlichen
Bücher und auch das geheimnisvolle 6. und 7. Buch Moses aufbewahrte.
Der Geistliche wurde auf seinen Dienstgängen oft von seinem ältesten
Sohn begleitet. Zwischen diesem und der Einwohnerschaft bestand ein besonders
herzliches Einvernehmen. Eines Tages reifte nun unter den Bewohnern Zinnwalds
der Plan, die Kraft und Auswirkung des erwähnten geheimnisvollen Buches
zu erproben. Sie überredeten den jungen Kauderbach, an einem Abende
das Vorhaben auszuführen, und berieten dabei auch alle nötigen
Vorsichtsmaßnahmen, auf daß niemand dabei ein Leid widerfahren
könne. Der junge Mann erklärte sich bereit, die geheime Schrift
den Leuten vorzulesen und glaubte wohl selbst an keine erste Gefahr. Zur
Vorsicht hatte man aber nach dem Nachbarhause verständigen, der dann
sofort den Pfarrer Kauderbach aus Geising zu Hilfe herbeiholen sollte. So
kam man denn an dem verabredeten Abende in der Wohnstube des kleinen Hauses
zusammen. Die Teilnehmer stellten sich im Zimmer in einem Kreise auf, in
dessen Mitte der junge Kauderbach seinen Platz einnahm und der neugierig
gestimmten Versammlung die verfänglichen Kapitel vorlas. Eine Zeit
lang war alles gut gegangen, und jedermann glaubte wohl, daß es mit
der geheimen Kraft des Buches nicht weit her sein könne. Aber plötzlich
tat sich die Stubentür auf und herein trat ein langer, hagerer Kerl,
der einen großen Sack auf dem Rücken trug. Er setzte sich auf
die Ofenbank, schlenkerte die Bürde von den Schultern und setzte den
Sack mit dem klirrenden Inhalt zwischen seinen Beinen auf die Dielen nieder.
Den Anwesenden lief es jetzt eiskalt über den Rücken, denn der
fremde Bursche hatte etwas Unheimliches an sich und sprach kein Wort. Der
junge Kauderbach faßte sich sofort und versuchte, die Kapitel der
Schrift rückwärts zu lesen, was ihm aber nicht gelang. In dieser
peinlichen Lage gab man nun das verabredete Klingelzeichen an den Nachbar,
der sich sofort auf machte und den Pfarrer Kauderbach aus Geising zur Hilfe
heranholte. Lange, bange Minuten vergingen, aber niemand wagte während
der Wartezeit den Raum zu verlassen oder gar den unheimlichen Gast anzusprechen,
sondern warf nur dann und wann einen scheuen Blick nach der Gestalt, die
hinter dem Geldsack auf der rot angestrichenen Bank hockte. Als der gelehrte
alte Mann endlich angekommen war und die Wohnstube betrat, zuckte der hagere
Geselle auf der Ofenbank zusammen und grinste: "Na , wenn du schon
kommst!" Vater Kauderbach meisterte sofort die Lage; er ergriff die
verhängnisvolle Schrift und las den Inhalt flott und sicher rückwärts.
Da richtet sich die dürre Gestalt sichtlich widerwillig in die Höhe,
warf den Geldsack wieder auf den Rücken und entfernte sich auf Nimmerwiedersehen.
Da die Anwesenden den bösen Gast vor seinem Eintritt in die Stube nicht
kommen sahen und nach dem Verlassen des Zimmers ebenfalls nicht mehr bemerkten
und nur ein Fauchen in dem Hausflur vernahmen, so gilt als sicher, daß der
Geselle seinen Weg durch den Schornstein gewählt hatte.